Illustrationen: Jonas Hauss
Open Research Knowledge Graph: Wissen neu gedacht
Weltweit werden jährlich mehr als zwei Billionen Euro – eine Zahl mit zwölf Nullen – für die Gewinnung neuer Erkenntnisse durch die Forschung ausgegeben. Das entspricht in etwa dem Bruttoinlandsprodukt Italiens!
Jedes Jahr wird ein immer größerer Anteil dieser Investitionen verschwendet. Der Grund: Die Darstellung und die Weitergabe von Forschungswissen beruht auf veralteten Methoden, die vor Jahrhunderten entwickelt wurden. Seit Beginn der modernen Wissenschaft – mit der Veröffentlichung des ersten Wissenschaftsjournals, der „Philosophical Transactions of the Royal Society“ im Jahr 1665, – nutzen wir nämlich die immer gleiche Methode zur Darstellung und Weitergabe von Forschungsergebnissen: wissenschaftliche Artikel.
Datenflut in der Wissenschaft
Zur Zeit von Gottfried Wilhelm Leibniz um 1700 konnte ein einzelner Forschender noch die gesamte wissenschaftliche Literatur lesen, die verfasst worden war. Heute werden jedes Jahr 2,5 Millionen neue Forschungsbeiträge geschrieben und selbst in einem relativ überschaubaren Wissenschaftsfeld ist es unmöglich, alle wissenschaftliche Artikel zu lesen, sie zu verstehen und daraus neue Erkenntnisse für sich zu gewinnen. Bei der gentechnischen CRISPR/Cas9-Methode zum Beispiel listet die wissenschaftliche Suchmaschine Google Scholar fast eine Viertelmillion Publikationen auf, die als PDF-Artikel zur Verfügung stehen. Wenn Forschende erfahren möchten, wie gut diese Methode im Vergleich zu anderen ist, welche Besonderheiten es bei der Anwendung bei Insekten gibt und wer sie bereits bei Schmetterlingen angewendet hat, dann ist entweder jahrelange Erfahrung nötig (was Interdisziplinarität oder Beiträge von Nachwuchsforschenden ausschließt) oder er/sie wird das Gesuchte sehr wahrscheinlich nicht finden. Stellen wir uns vor, wir wollen ein neues iPhone bestellen und müssten dafür Preise vergleichen, indem wir Dutzende von PDFs durcharbeiten. Oder um den Weg zu einem Hotel zu finden, müssten wir den PDF-Scan eines Stadtplans studieren. Undenkbar? Aber genauso funktioniert heute der Austausch von Forschungswissen: Die bislang analogen Artikel aus Wissenschaftsjournalen werden als PDF-Dokumente bereitgestellt und weitergegeben. Die neuen Methoden der digitalen Welt – wie das Filtern großer Mengen von Daten und Informationen, die Einbindung von Informationen aus verschiedenen Quellen oder die Einbeziehung von Nutzerinnen und Nutzern via Crowdsourcing zur Überprüfung und Unterstützung bei der Informationsorganisation – fehlen gänzlich in der Wissenschaftskommunikation.
Forschende ertrinken in einer Flut von Millionen pseudo-digitalisierter PDF-Publikationen. Als Folge wird die Forschung ernsthaft geschwächt: Viele Forschungsergebnisse können durch andere nicht reproduziert werden, es herrscht ein Mangel an Peer-Review und es gibt mehr und mehr Redundanzen.
An der TIB und am Forschungszentrum L3S denken wir derzeit die Wissenschaftskommunikation neu. Als Alternative zu statischen PDF-Artikeln, arbeiten Wissenschaftler an einem dynamischen Wissensgraphen – dem Open Research Knowledge Graph. In ihm sollen verschiedene Forschungsideen, -ansätze, -methoden und -ergebnisse maschinenlesbar dargestellt werden.
Verbesserung des Wissensaustauschs mit Wissensgraphen
Forschende haben durch diese Methode einen leichteren Zugang zum Stand der Wissenschaft in einem bestimmten Feld und können ihre Ansätze planvoll weiterentwickeln. Neue Forschungsbeiträge können zudem nahtlos integriert und wissenschaftliche Entdeckungen vorangetrieben werden, um so die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte zu lösen: Klimaneutralität oder Infektionskrankheiten sind da nur zwei von vielen Themen.
Die Bewältigung solcher großen Herausforderungen erfordert Interdisziplinarität und das Zusammenfügen von Erkenntnis-Einzelteilen.
Mit dem Open Research Knowledge Graph kann uns das gelingen und die Wissenschaftskommunikation revolutioniert werden!
Betaversion vom ORKG online
Die Betaversion des Open Research Knowledge Graph (ORKG) ist seit Ende 2019 online – mit verbesserter Benutzeroberfläche und vielen neuen Funktionen. Probieren Sie es aus und geben Sie uns Feedback!
Kontakt
Prof. Dr. Sören Auer
Prof. Dr. Sören Auer ist Direktor der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften, Professor für Data Science und Digital Libraries an der Leibniz Universität Hannover und Mitglied des erweiterten L3S-Direktoriums. Für seine Forschung am Open Research Knowledge Graph erhielt Auer 2018 einen der renommierten Consolidator Grants des Europäischen Forschungsrates (ERC) in Höhe von zwei Millionen Euro. Das Projekt wird im gemeinsamen Joint Lab von TIB und L3S angesiedelt sein.