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Ausgabe 01/2023

Operieren oder nicht?

Personalisierte Versorgung von Schwerhörigen

In Deutschland leidet etwa jeder Fünfte unter vermindertem Hörvermögen, bei den über 70-Jährigen ist es sogar jeder Zweite. Weltweit schätzt die WHO die Zahl der Betroffenen auf 1,5 Milliarden, bis 2050 werden es voraussichtlich fast 2,5 Milliarden sein. Ein eingeschränktes Hörvermögen kann das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen, etwa im Beruf oder bei der gesellschaftlichen Teilhabe, und wirkt sich damit auch auf das psychische Wohlbefinden aus. Eine vielversprechende Behandlungsoption bei einer ausgeprägten Schwerhörigkeit sind elektronische Hörprothesen, die operativ in die Hörschnecke (Cochlea) eingesetzt werden. Diese Cochlea-Implantate (CI) sollen vor allem jenen Patienten zu mehr Lebensqualität verhelfen, für die ein konventionelles Hörgerät nicht mehr ausreicht. Allerdings hilft ein CI nicht allen Patienten gleich gut. Das schreckt viele Hörgeschädigte ab – auch solche, die von der Operation profitieren würden. Für Betroffene und für die behandelnden Ärzte wäre es also hilfreich, die Erfolgswahrscheinlichkeit der Operation vorab möglichst genau einschätzen zu können. Das interdisziplinäre Projekt “Understanding Cochlear Implant Outcome Variability using Big Data and Machine Learning Approaches” soll genau das ermöglichen. Wissenschaftler des L3S arbeiten gemeinsam mit Kollegen vom Deutschen HörZentrum (DHZ), der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) daran, die Versorgung von schwerhörigen Patienten mit Cochlea-Implantaten zu personalisieren und so mehr erfolgreiche OPs zu ermöglichen.


Tatsächlich gibt es nach einer CI-Implantation große individuelle Unterschiede im Hörvermögen. „Die Ursachen sind vielfältig und im Einzelnen bisher nicht gut verstanden. Daher zielt unser Ansatz darauf ab, mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) das Ergebnis einer potenziellen Operation vorherzusagen, um für jeden Patienten die individuell beste Therapie auszuwählen“, sagt Projektmitarbeiterin Johanna Schrader, die am L3S ihre Doktorarbeit zu diesem Thema schreibt.

Bisherige Vorhersage-Modelle betrachten vergleichsweise kleine Datensätze mit wenigen Patienten und beschränken sich auf klinische Daten. „Vermutlich konnte deshalb noch nicht vollständig aufgedeckt werden, welche Faktoren den CI-Therapieerfolg beeinflussen“, sagt Schrader. Und vermutlich kommt deshalb auch noch kein KI-Vorhersage-Modell in der klinischen Praxis zur Anwendung.

Als weltweit größtes Kompetenzzentrum für Cochlea-Implantationen verfügt das DHZ in Hannover über einen umfangreichen Datensatz von über 10.000 CI-Implantationen. Im Projekt analysieren die Forscher eine breite Vielfalt an Datentypen: neben klinischen und genetischen Daten auch Bilddaten von CT-Scans und Messungen von Stoffwechselprodukten. Am L3S entwickeln Johanna Schrader und ihre Kollegin Dr. Sowmya Sundaram mithilfe dieser Daten ein Machine-Learning-Modell, das für jeden einzelnen Patienten die individuellen Erfolgschancen einer Operation vorhersagen kann. Gleichzeitig gibt das Modell Aufschluss darüber, welche Faktoren für die Prognose besonders relevant waren. „Während der Entwicklung verifizieren wir die Ergebnisse konstant in enger Zusammenarbeit mit Forschern des DHZ und integrieren Anforderungen wie Transparenz und Interpretierbarkeit direkt in das Modell. Mit Kollegen der MHH erweitern wir die Datengrundlage des KI-Modells um genetische Informationen der Patienten“, erklärt Schrader.

Zeitgleich etablieren die Wissenschaftler im Rahmen des Projekts gemeinsame Datenstandards. So arbeitet etwa das L3S gemeinsam mit dem DHZ daran, die Ursachen des Hörverlustes hierarchisch zu strukturieren. Solche Standards erleichtern zukünftige Datenanalysen und erweitern die Datenbanken um zusätzliches Fachwissen. Die Vorhersagen des entwickelten Modells können direkt vor Ort im DHZ zum Einsatz kommen und helfen den Medizinern, eine maßgeschneiderte Therapie für jeden einzelnen schwerhörigen Patienten zu planen.

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Johanna Schrader

Johanna Schrader ist Doktorandin am L3S und arbeitet im CI-Projekt an Vorhersagemodellen und Datenanalysen. Ihre Forschung befasst sich mit Machine Learning und kausalen Methoden für die personalisierte Medizin.