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Ausgabe 01/2023

KI verbessert Diagnose und Behandlung

Patientendaten und Künstliche Intelligenz

Wenn Kinder an Krebs erkranken, ist es in fast jedem dritten Fall Leukämie. Es ist die häufigste Krebserkrankung in der Altersgruppe bis 14 Jahre und die Inzidenzrate steigt weiter an. In Deutschland hat sich die Zahl der Fälle in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt.

Leukämie entsteht im Knochenmark, dem Ort der Blutbildung. Durch eine bösartige Veränderung im Erbgut einer Stammzelle produziert das Knochenmark unreife Blutzellen. Sie funktionieren nicht richtig, vermehren sich unkontrolliert und verdrängen die gesunden Blutzellen, die ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können. Im Kindesalter ist die akute lymphatische Leukämie (ALL) mit rund 80 Prozent die häufigste Form. Bei ALL sind es die Lymphozyten, eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die nicht mehr reifen. Ohne Lymphozyten verliert der Körper die Fähigkeit, Viren oder Bakterien abzuwehren. Außerdem verdrängen die unreifen Zellen die gesunden blutbildenden Zellen. Die ALL tritt plötzlich auf und würde unbehandelt innerhalb kurzer Zeit zum Tode führen. Auch wenn die Heilungschancen bei den meisten Formen der ALL im Kindesalter gut sind, gibt es nach wie vor Probleme bei einigen Untergruppen. So stagnieren etwa die Überlebensraten bei aggressiven Leukämien trotz intensivierter Therapie, einschließlich Stammzelltransplantation.

ALL-Patienten werden in Risikogruppen mit jeweils unterschiedlichen Therapieplänen unterteilt, die das Rückfallrisiko und die Heilungsaussichten berücksichtigen (Stratifizierung). In der klinischen Praxis sind die genetischen Veränderungen, die Zahl der weißen Blutkörperchen und das Alter des Patienten die wichtigsten prognostischen Faktoren, die die Risikostratifizierung und den Behandlungsplan bestimmen. In den letzten Jahren haben Genomanalysen von Leukämien mehrere neue genetische Veränderungen aufgedeckt, die nun als prognostische Marker verwendet werden und zum Teil zu veränderten Behandlungsentscheidungen geführt haben. Viele wichtige Fragen bleiben jedoch unbeantwortet. So ist beispielsweise in den meisten Fällen nicht bekannt, ob und wie die Markergene an der Krebsentstehung beteiligt sind. Mediziner, Biologen und Informatiker stehen gemeinsam vor der Herausforderung, die Leukämieentstehung besser zu verstehen.

Im Leibniz KI-Labor arbeiten Dr. Anke Bergmann vom Institut für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Dr. Michelle Tang vom L3S im Anwendungsfall ALL daran, zusätzliche diagnostische und prognostische Marker für ALL bei Kindern zu finden. Dabei kooperieren sie eng mit Ärzten der Kinderkrebsstation der MHH. „Um Patienten die passende Behandlung mit möglichst geringen Nebenwirkungen zu ermöglichen, Hochrisikopatienten zu erkennen und die Heilungschancen zu verbessern, ist eine enge Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Bereichen von zentraler Bedeutung,“ sagt Dr. Bergmann. Nur so könne ein nahtloser Wissenstransfer vom Krankenbett zum Labor und zurück gewährleistet werden.

Als Erstes nutzt das Team KI-Modelle, um Sequenzierungsdaten des Erbguts zu analysieren. „Durch diesen neuartigen Ansatz konnten wir neue Muster in ALL-Untergruppen identifizieren,“ sagt Dr. Tang. Bisher können etwa 30 Prozent aller Patienten keiner Untergruppe zugeordnet werden. „Unsere maschinellen Lernmodelle können für diese Patienten nun Untergruppen präziser vorhersagen und damit eine passende Therapie ermöglichen“, so Tang weiter.

Das Team integriert die maschinellen Modelle in eine benutzerfreundliche grafische Schnittstelle, über die die Ärzte und Forscher nicht nur genetische, sondern auch klinische Daten wie Alter, Geschlecht oder Medikamentenreaktionen anzeigen und abfragen können. Das Webtool bietet nicht nur einen besseren Überblick über jeden einzelnen Patienten, sondern erleichtert auch die Analyse von Patientengruppen. „Unsere Erfahrungen aus dieser Zusammenarbeit bestätigen, wie wichtig es ist, KI in der Medizin einzusetzen. Dieses Wissen ermöglicht eine gezielte Therapie, wobei Nebenwirkungen und Langzeitfolgen individuell so gering wie möglich gehalten werden können“, sagt Bergmann.

Kontakt

PD Dr. med. Anke Bergmann

Anke Bergmann ist Stellvertretende Leiterin des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie leitet den Use Case ALL im Leibniz KI-Labor.

Dr. Michelle Tang

Michelle Tang ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Leibniz KI-Labor. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bioinformatik, maschinelles Lernen und Deep Learning sowie Data Science.