Wie könnte man KI an der Schule nutzen – und warum sind die Berührungsängste dort so groß? Ein Gespräch mit dem Informatiker Wolfgang Nejdl
INTERVIEW: ANDREAS BERNARD
Seit der Erfindung von Chat-GPT herrscht an Schulen Sorge über Betrug bei Hausaufgaben und Seminararbeiten. Im Diskurs um KI und Bildung steht das Unbehagen im Zentrum, dass die neuen Sprachmodelle das selbständige Denken- und Schreibenlernen des Menschen endgültig an eine künstliche Technik auslagern. Kant schrieb 1784 die berühmten Worte: „Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“ Ist das Projekt in Gefahr? Wolfgang Nejdl leitet das Forschungszentrum L3S an der Leibniz-Universität Hannover, dort beschäftigen sich rund 200 Computerwissenschaftler aus aller Welt mit Fragen der künstlichen Intelligenz und Sprachmodellen wie Chat-GPT. Nejdl forscht auch zum Bereich der Bildung. Zeit für ein Gespräch.
SZ: Herr Nejdl, bedrohen die Sprachmodelle das 250 Jahre alte Projekt der Aufklärung?
Wolfgang Nejdl: Unser Schwerpunkt beim Einsatz von Chat-GPT in der Bildung liegt immer auf der aktiven Nutzung; die Sprachmodelle als Gesprächspartner für Schüler, die auch von ihrem Elternhaus her nicht die Möglichkeit haben, kurz bei ihrer Mutter oder ihrem Vater nachzufragen, wie das jetzt genau war mit Heinrich IV. oder Schillers „Räubern“. Aber es gibt zweifellos auch die rein passive Nutzung, die Erleichterung oder sogar Erschleichung von Aufgaben, das gebe ich sofort zu. Was das Selberdenken und die Übermacht der Technik betrifft: Da ist es wichtig zu sehen, dass solche technischen Hilfsmittel an der Schule eine lange Geschichte haben, man denke an den Taschenrechner.
Als das Gerät an deutschen Gymnasien Ende der Siebziger im Mathematikunterricht zugelassen wurde, gab es aufgeregte Debatten um das Ende der Rechenkompetenz, die der jetzigen Sorge ähneln.
Ich habe 1979 in Wien meine Matura gemacht, und da waren gerade die ersten Modelle verfügbar, die man sogar schon programmieren konnte. An die Kritik erinnere ich mich auch, aber mehr noch an meine eigene Begeisterung, konkrete Aufgaben mit dem Gerät lösen zu können. Zum Beispiel habe ich als Schüler ein Programm geschrieben, das alle Primzahlen bis 100 ausgegeben hat.
Also lag Ihr Fokus schon damals auf der selbstermächtigenden Nutzung der Technik?
Wahrscheinlich bin ich im Kopfrechnen irgendwann schlechter geworden, aber mein Punkt war eher: Wenn du den Taschenrechner benutzt, hast du das notwendige Zeug schnell erledigt und kannst darauf aufbauen und im Stoff weitergehen. So sehe ich auch die Einbeziehung von Google, Wikipedia und jetzt Chat-GPT in Schule und Bildung.
Arbeiten Schulen in Deutschland denn überhaupt schon mit Sprachmodellen?
Im Unterricht verwendet werden sie meines Wissens zurzeit noch nicht. Aber es gibt bei uns an der Leibniz-Universität und anderswo gerade Initiativen, Sprachmodelle in der Lehrerbildung einzusetzen.
Worum geht es da?
Dass die Schüler das Internet als hauptsächliche Informationsquelle bei Hausaufgaben oder Referaten nutzen, über Google und Wikipedia, ist seit vielen Jahren eine Tatsache. Sprachmodelle können diese Recherche verfeinern und auch individuell an das Interesse des einzelnen Schülers anpassen. Wenn man eine Suchmaschine und ein Sprachmodell miteinander koppelt, wie es Microsoft Bing jetzt schon tut, ergibt sich eine intelligentere Suche. Die Schüler bekommen auf ihre Frage, zum Beispiel über ein historisches Thema, nicht nur eine Zusammenfassung, sondern sie erhalten auch weitere Referenzen und können Rückfragen stellen. Mit Sprachmodellen wie Chat-GPT lässt sich ja eine richtige Konversation führen.
Wie werden die Lehrer in den aktuellen Fortbildungen dabei angeleitet?
Wir erarbeiten Kurse für Lehrer und für Referendare, in denen wir konkrete Fragestellungen ihrer jeweiligen Fächer diskutieren: Wie Sprachmodelle im Klassenzimmer und in der Hausaufgabenstellung sinnvoll eingebunden werden können. Die meines Erachtens wichtigste Neuerung für den Unterricht besteht ja darin, dass mit der Einbeziehung von Chat-GPT als Rechercheinstrument nicht mehr jeder Schüler das Gleiche liest, sondern im Dialog mit dem Sprachmodell auf ganz eigene Gedanken und weiterführende Fragen kommt, je nachdem wie weit das Interesse sie oder ihn führt. Jeder Schüler hat andere Fragen an den Stoff, und da sehe ich bei den Sprachmodellen die Chance, dass individuelle Vertiefungen stärker möglich werden.
Chat-GPT führt also zu einer Personalisierung des Unterrichtsstoffs?
Die notenrelevanten Grundlagen dessen, was in einer Schulstunde vermittelt wird, müssen natürlich für alle gleich bleiben, aber auf diese Weise wird es für manche Schüler einfacher und anregender, sich weitere Informationen zu verschaffen, wenn sie das wollen. Außerdem gibt es ja bestimmte Schulklassen – Oberstufen mit verschiedenen Abschlusszweigen oder Grundschulklassen auf dem Dorf mit unterschiedlich alten Schülern –, in denen die Lehrer das heterogene Leistungsniveau immer im Unterricht berücksichtigen müssen. Da würde sich die Integration von Sprachmodellen in meinen Augen stark anbieten. Und wir helfen den Lehrern dabei, diese Integration besser zu bewerkstelligen.
Kritiker sagen, dass Sprachmodelle nicht einfach eine graduelle Entwicklung von Suchmaschinen und Online-Enzyklopädien sind, sondern eine Zäsur: Halten Sie das für deplatziert?
Das ist keine einfache Frage. Denn es ist ja tatsächlich so, dass man in Unterhaltungen mit Chat-GPT oft den Eindruck hat, das Sprachmodell antworte wie ein Mensch. Und das ist neu. Taschenrechner und Google treten in keinen Dialog mit mir. Sprachmodelle können Wörter mit so großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, dass ein sinnvolles Gespräch entsteht, weil sie mit so unglaublich viel Text trainiert werden. Der Gesamtumfang von Wikipedia zum Beispiel beträgt nur vier Prozent dessen, was Chat-GPT bislang gelesen hat. Da aber nur programmiert wird, was das Sprachmodell lernt, und nicht, was es sagen soll, kommt es zu diesen Irritationen, dass da vielleicht ein vernunftbegabtes Wesen sitzen könnte. Deshalb ist es auch so wichtig, dass kontrolliert wird, was das Sprachmodell liest. Außerdem werden dem Modell Bewertungsfunktionen antrainiert, ein innerer Kompass gewissermaßen, der sicherstellt, dass es in Dialogen mit Nutzern nicht in rassistischer oder sexistischer Weise antwortet.
Wie erklären Sie es sich, dass über den Einsatz an Schulen bislang so wenig gesprochen wird?
Vielleicht haben wir alle zu viel Science-Fiction im Kopf. Deshalb ist für mich der Bereich der Bildung so wichtig, weil man in den Schulen gut ansetzen kann, um die Einsatzmöglichkeiten im Einzelnen durchzuspielen und den Schülern damit auch von vornherein das Unbehagen zu nehmen. Wenn man weiß, wie etwas funktioniert, ist es in der Regel nicht mehr bedrohlich. Es gibt ja das alte Sprichwort: Alles, was man nicht versteht, ist Magie.
Das heißt, der Einsatz von Sprachmodellen in der Schule wäre Ihrer Ansicht nach eher eine zeitgemäße Fortführung des aufklärerischen Projekts?
Das ist auf jeden Fall das Ziel. Sprachmodelle und KI werden gerade sehr stark in alarmistischen Kontexten dargestellt. Abgesehen davon, dass ich die existenzielle Gefährdung durch den Klimawandel viel bedrohlicher finde als künstliche Intelligenz, geht es in unserer Arbeit gerade darum, Dinge unaufgeregt zu erklären. Das kann auch einfach bedeuten, dass wir den Lehrern genau zeigen, wie die Vorschlagsalgorithmen auf Youtube oder Tiktok funktionieren und wie diese Algorithmen dafür sorgen, dass die Verweildauer ihrer Schüler auf diesen Plattformen durch immer stärkere Reize maximiert wird. In unseren Fortbildungskursen soll auch ein Bewusstsein für diese verborgenen Strategien geschaffen werden. Früher nannte man das die Herstellung von Medienkompetenz. Wir versuchen, den Lehrern und Schülern heute KI-Kompetenz zu verschaffen.
Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 13.09.2023 (Online-Artikel)
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